Als Jüdin und Sozialdemokratin gehört Jeanette Wolff, eine der Gründerinnen der Arbeiterwohlfahrt, zu den „doppelt Verfolgten“ im Nationalsozialismus. Nach mehrjähriger Haft- und KZ-Erfahrung überleben sie und ihre Tochter Edith als einzige ihrer Familie den Holocaust. Schon in der Weimarer Zeit kämpft Wolff für soziale Wohlfahrt und Arbeitsschutz.
Jeanette Wolff geb. Cohen kam als ältestes von 16 Kindern am 22.6.1888 in Bocholt zur Welt. Ihr Vater Isaac Cohen war Textilhändler, Lehrer und Sozialdemokrat. Als 16jährige kam Jeanette Wolff nach Brüssel, begann eine Ausbildung zur Kindergärtnerin, die sie mit Auszeichnung abschloss, und trat in die sozialdemokratische Partei ein. Sie heiratete in Bocholt einen Niederländer, im Herbst 1908 zogen die beiden nach Dinxperlo, wo am 4. Dezember ihre Tochter geboren wurde, die kein Jahr später an plötzlichem Kindstod starb. Wenig später, am 7. Oktober 1909, verlor sie auch ihren an TBC erkrankten Ehemann.
In zweiter Ehe heiratete Jeanette Wolff den aus Dortmund stammenden Kaufmann Hermann Wolff. Er hatte eine kleine Textilfabrik, die die beiden schließlich gemeinsam führten. 1912 führten sie dort den Achtstundentag ein. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor: 1912 Juliane, 1916 Edith, 1920 Käthe. Am 2. August 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erfolgte die Einberufung ihres Mannes. Von da an führte sie das Textilunternehmen allein.
Im November 1918, zu Beginn der Weimarer Republik, engagierte Jeanette sich mehr in der Politik. In Bocholt wurde sie 1919 für die SPD zur Stadtverordneten gewählt, es folgten Reden auf den SPD-Parteitagen, auf vielen Versammlungen, sie war Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt, ihr Haus war Treffpunkt der Arbeiterkinder aus der Umgebung. Die Nazis verhafteten sie noch im März 1933, nahmen sie in „Schutzhaft“. Hermann Wolff kam nach der so genannten "Reichskristallnacht" im November 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Physisch und psychisch schwer beschädigt kehrte er im Februar 1939 zurück. Jeanette Wolff schickte die Töchter Edith und Käthe zu Verwandten nach Holland. Bei einem kurzen Besuch zu Hause wurden die beiden Mädchen festgenommen und zur Zwangsarbeit herangezogen. 1939 wurde die Familie Wolff in einem "Judenhaus" untergebracht, ihre große Wohnung musste für einen arischen Apotheker geräumt werden.
Familie Wolff wurde Ende 1943 in das Konzentrationslager Riga-Kaiserwald gebracht. Als sich im Sommer 1944 die sowjetische Armee der lettischen Grenze näherte, wurde das KZ Kaiserwald mit seinen Nebenlagern aufgelöst. Zunächst führte der Weg für Jeanette Wolff in das KZ Stutthof. Hermann kam in die Konzentrationslager Buchenwald und Flössenburg und wurde wenige Tage vor der Befreiung auf einem Todesmarsch in Wetterfeld (0berpfalz) von der SS erschossen. Tochter Edith und Jeanette Wolff blieben in verschiedenen Konzentrationslagern, überlebten einen Todesmarsch und wurden von der näher rückenden sowjetische Armee befreit. Jeanette und Edith mussten noch ein Jahr in Polen verbringen, bevor sie zusammen im Januar 1946 nach Deutschland zurückkehren konnten. Die Erinnerungen an diese Zeit in Riga und im KZ Stutthof hat Jeanette Wolff 1946 in Berlin niedergeschrieben. „Sadismus oder Wahnsinn“, so der Titel.
Im Januar 1946 meldete sich Jeanette Wolff in Berlin bei der SPD. Sie arbeitete für die Zeitung „Sozialdemokrat“ und wurde in der Jüdischen Gemeinde aktiv. In den ersten Monaten des Jahre 1946 kämpfte sie gegen den vom SPD-Zentralausschuss um Otto Grotewohl forcierten Zusammenschluss der SPD mit der KPD.
1952 – 1962 war sie Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Jeanette Wolff plädierte für ein scharfes Entnazifizierungsgesetz und setzte sich vehement für eine höhere Entschädigung der NS-Opfer ein; dabei stellte sie Vergleiche mit den Rentenzahlungen für die ehemaligen Offiziere Hitlers an. 1961 erhielt sie als erste Auszeichnung das "Große Verdienstkreuz" der Bundesrepublik Deutschland; 1965 wurde Jeanette Wolff Stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland und erhielt weitere Auszeichnungen, unter anderem 1973 die Ernst-Reuter-Plakette, 1975 die Leo-Baeck-Medaille. Jeanette Wolff starb am 19.05.1976 im Alter von 88 Jahren. Sie erhielt ein Ehrengrab auf dem Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Weitere Infos: https://www.riga-komitee.eu/schicksale/jeanette-wolff-ich-habe-riga-uebe...